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Die Kurden wollen weg von Bagdad

Der autoritäre Führungsstil von Iraks Premier al-Maliki und ausbleibende Ölzahlungen nähren den Wunsch nach Autonomie im Norden. Besuch in der boomenden Region Von Alfred Hackensberger, Erbil

Schade, dass man Saddam Hussein aufgehängt hat", sagt Daham, der uns an einem irakischen Grenzübergang zu Syrien abholt. Er ist ein Vertrauensmann, den man braucht, um sicher durch irakisches Gebiet zu kommen, ohne in die Hände radikaler Islamisten zu fallen. "Würde unser Saddam noch regieren, könnten wir ohne Probleme nach Mosul fahren. Stattdessen schneidet man Ihnen heute dort den Kopf ab."
Mosul ist ein Zentrum von al-Qaida und des Islamischen Staats im Irak und der Levante (Isil), die dort seit Jahren Schutzgelder für die Finanzierung ihrer Organisationen erpressen. "Glauben Sie mir", fährt Daham fort, "Saddam hätte in kürzester Zeit mit diesen Extremisten aufgeräumt." Viele Iraker würden so denken wie er, versichert der Sunnit am Steuer seines uralten, roten Toyota Pick-ups. Natürlich hält Daham nichts von der Parlamentswahl am 30. April. "Das ist ein inszeniertes Theater", meint er mit abweisender Handbewegung. "Alle Politiker stehen auf der Gehaltsliste der USA, die den Irak völlig ruinierten." Daham bringt uns zur Grenze nach Kurdistan, dem einzigen Ort im Irak, in dem man als Europäer noch sicher sei. "Gehen Sie in Frieden", sagt er zum Abschied.
Auf der Weiterfahrt ins 200 Kilometer entfernte Erbil, der Hauptstadt der autonomen kurdischen Region im Norden des Landes, passiert man ungezählte Checkpoints. Autos werden immer wieder aufs Neue nach Sprengstoff und Waffen durchsucht sowie die Identität der Wageninsassen überprüft. Es ist ein weitverzweigtes, dichtes Sicherheitsnetz, mit dem die regionale Regierung Kurdistans (KRG) erfolgreich ihre Städte und die Bevölkerung schützt. Autobomben und Mordanschläge, wie sie im Rest des Iraks zum blutigen Tagesgeschäft gehören, sind im kurdischen Gebiet eine Seltenheit. In Erbil gehen Frauen ohne Kopftuch, auffallend geschminkt und in eng anliegenden Hosen spazieren. Pärchen halten ungeniert Händchen, und in Geschäften wird selbst an religiösen Feiertagen Alkohol gekauft. Viele Iraner besuchen das Nachbarland, um ungestört in Bars und Discos zu feiern. "Zu Hause können wir nur in Privatwohnungen oder Häusern Party machen", sagt Divan, ein 27-Jähriger aus Teheran, der mit drei Freunden für ein verlängertes Wochenende in Erbil ist. "Hier muss man sich nicht verstecken und kann alles öffentlich machen." Frisch rasiert und parfümiert machen sich die jungen Männer abends auf die Suche nach "netter Begleitung", wie sie sagen.
Im arabischen Teil des Iraks ist so etwas völlig undenkbar. Dort kann es das Leben kosten. "Wir mussten 2003 unser Alkoholgeschäft in Bagdad aufgeben", erzählt Samad Najat, der im Laden seines Vaters im Zentrum von Erbil gerade Whiskyflaschen und Bierdosen in Tüten packt. "Zweimal zündete man bei uns Bomben. Zum Glück gab es immer nur Sachschaden." Seit diesen Attentaten und dem erzwungenen Umzug hat Najat jeden Glauben an Politik und Autoritäten verloren. "Ich gehe grundsätzlich nicht mehr wählen, denn das verändert nichts." Aber sein Vater würde abstimmen und Massud Barsani wählen. Barsani ist Präsident der KRG und Führer der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK). Sie regiert zusammen mit der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). "Egal welche Partei, alle sind Betrüger und Diebe, wie immer sie sich auch nennen mögen", meint Najat mit einem verächtlichen Lachen.
Vor zehn Jahren war Erbil noch ein Dorf, sagt ein Supermarktbesitzer. Heute ist der Ort mit 1,3 Millionen Einwohnern eine moderne Stadt. Teure Geländewagen und Limousinen sind auf der Straße allgegenwärtig. Neue, exklusive Wohnsiedlungen werden errichtet. Empire City, ein Geschäftszentrum, das mit seinen im Bau befindlichen Hochhäusern an Dubai erinnert, soll 2017 eröffnet werden. Erbil ist Boomtown, nicht zuletzt wegen der Erdölvorkommen. Investoren aus den Golfstaaten investieren im stabilen Teil des Iraks. Die Konferenzräume im Fünfsternehotel Rotana sind für Wochen ausgebucht.
In der kurdischen Hauptstadt ist der Wahlkampf unübersehbar. Jeder freie Platz ist mit Plakaten übersät. Fahnengirlanden sind über Straßen gezogen, Poster hängen an Geschäften, schmücken öffentliche Brunnen und sogar Verkehrsschilder. Das völlige Durcheinander von Kandidatenporträts liegt wohl daran, dass neben der Parlamentswahl gleichzeitig Regionalwahlen stattfinden. "83 Prozent haben ihre elektronischen Wahlkarten", behauptet Shwan Taha von der DPK stolz, der erneut für einen Abgeordnetensitz in Bagdad kandidiert. "Das ist der untrügliche Beweis einer wahren Demokratie." Für Taha spielen die Regionalwahlen eine untergeordnete Rolle. "Die Parlamentswahlen bestimmen die Zukunft des Iraks und Kurdistans." Die entscheidende Frage sei, ob man Premierminister Nuri al-Maliki stoppen könne. "Seine Politik hat auf nationaler Ebene eine Grenze erreicht, die nicht mehr zu tolerieren ist", stellt Taha fest. Al-Maliki habe seine Macht politisch, ökonomisch und über bewaffnete Milizen gefestigt. "Als Premier ist er gleichzeitig Verteidigungsminister, Innenminister, Finanzminister und auch Chef des Geheimdienstes." Das müsse ein Ende haben. Ebenfalls nicht mehr zu tolerieren sei al-Malikis Haltung gegenüber Kurdistan. Seit Monaten gibt es keine Einigung über den Anteil der KRG am Staatshaushalt. Bisher habe Kurdistan 17 Prozent erhalten, wovon jedoch nur zehn oder elf Prozent angekommen seien, meint Taha. "Und dieses Geld wurde nicht auf einmal bezahlt, sondern nur scheibchenweise." Immer wieder verzögere Bagdad die Gehaltszahlungen von kurdischen Staatsangestellten.
Hintergrund des Budgetproblems ist die Verteilung der Einnahmen aus dem Erdöl- und Erdgasgeschäft. Bisher verwaltete die Zentralregierung die Erlöse aus den einzigen gewinnträchtigen Ressourcen des Iraks. Aber in Kurdistan möchte man nicht mehr vom Gutdünken Bagdads abhängig sein und verlangt mehr Mitspracherecht. Zumal man in den letzten Jahren eigene Förderanlagen und Raffinerien gebaut hat. Am liebsten würden die Kurden auf eigene Rechnung Öl und Gas verkaufen. Taha glaubt, man könne und müsse im neuen Parlament eine Lösung dafür finden. "Sonst muss man über eine Abspaltung Kurdistans vom Rest des Iraks nachdenken", stellt er abschließend fest. "Noch ist nicht die Zeit dafür, man sollte erst einmal abwarten, was die Wahlen bringen." Wesentlich pessimistischer ist Rawaz M. Khoschnaw, ein DPK-Kollege im Parlament von Bagdad. Der 35-Jährige warnt vor der Diktatur al-Malikis. "Die Wahlen bringen keine klare Mehrheiten", glaubt er. "Die Regierungsbildung werde sich auf unabsehbare Weise hinziehen und die Regierung al-Malikis bleibt weiter im Amt."
Insgesamt stehen 142 Parteien für das Parlament zur Wahl, die Teil von 41 Bündnissen sind. "In der Tat ist kaum zu erwarten, dass eines dieser Bündnisse eine mehrheitsfähige Regierung bilden kann", bestätigt Wladimir van Wilgenburg. Er ist Spezialist für den Mittleren Osten der Jamestown Stiftung in Washington. "Die Kurden waren nach den letzten Wahlen der Königsmacher für al-Maliki, was sich nach den aktuellen Streitigkeiten kaum mehr wiederholen dürfte." Für ihn kommt eine Abspaltung Kurdistans noch zu früh. "Die Barsani-Regierung verhandelt zwar mit dem Nachbarland Türkei über Erdölexporte. Aber bisher fehlt noch die Infrastruktur, um ökonomisch unabhängig zu sein."
Der Parlamentsabgeordnete Khoshnaw kandidiert nicht mehr für sein Amt. "Die Wahlen verändern nichts", sagt er entschieden. "Al-Maliki hat das Parlament Schritt für Schritt entmachtet und neue, ihm unliebsame Gesetzgebungen torpediert." Er werde von den USA und dem Iran unterstützt. Für Washington sei er das "kleinere Übel" im Vergleich zu anderen, weitaus radikaleren schiitischen Politikern im Irak. Al-Maliki stehe für Kontinuität. Iran will ihn als verlängerten Arm der Interessen der islamischen Republik. Er soll weiter den Kampf des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad gegen die Rebellen unterstützen. Der Iran nutzt den irakischen Luftraum für seine Waffenlieferungen an das Regime in Damaskus. Es ist kein Wunder, dass al-Maliki auf Wahlkampfpostern gemeinsam mit Kandidaten wirbt, die im syrischen Bürgerkrieg kämpften.
Einer von ihnen ist Faleh al-Khasali. Der 39-Jährige gibt offen zu, er sei der Kommandeur der ersten schiitischen Kämpfer aus dem Irak in Damaskus gewesen. Dort hätten sie das Stadtviertel, in dem die Moschee von Sayyida Zeinab liegt, von radikalen sunnitischen Islamisten gesäubert. Das Grab der Tochter von Imam Ali auf dem Areal der Moschee ist ein beliebter Wallfahrtsort für Schiiten. Zum Schutz dieses heiligen Ortes ist man bereit zu sterben. Im Internet zeigt sich Khasali in Militärkleidung und mit einer Kalaschnikow in der Hand in Syrien. "Unsere nationale Sicherheit verlangt von uns", sagte Khasali, "dass wir zuerst in Syrien die heiligen Stätte verteidigen." Danach komme der Irak.
Für al-Maliki käme die Abspaltung Kurdistans, abgesehen vom Verlust von Erdöleinnahmen aus dieser Region, nicht ganz ungelegen. Ohne die kurdischen Sunniten würden die Schiiten 80 Prozent der Bevölkerung stellen. Die arabischen Sunniten wären damit eine Minorität, der man keine große Mitspracherechte zugestehen müsste. Irak wäre ein schiitischer Staat.
Im Stadtteil Scharawani von Erbil liegt das Parteibüro von al-Goran. Die Partei des "Wechsels" ist seit 2009 in der Opposition. Umfragen sagen ihren Sieg bei den Regionalwahlen sowie ein Anwachsen der Zahl ihrer Parlamentssitze in Bagdad voraus. "Ich denke nicht, dass al-Maliki seine dritte Amtsperiode antreten kann", meint Abdulsamid Abdulhai, der politische Analyst der Partei. "Seine Regierung versagte bei der Sicherheitsfrage und die Menschen haben das tägliche Blutbad in irakischen Städten satt." Das sollte sich im Wahlergebnis niederschlagen. Abdulhai ist sich allerdings nicht sicher, ob der Volkswille wirklich zur Geltung kommen wird. "Stimmenkauf ist völlig normal. Außerdem haben die Regierenden eine Trumpfkarte im Ärmel." Er meint die Staatsangestellten, insbesondere bei Armee und Polizei, die bereits am Sonntag zu wählen begannen. "Sie haben zwei Wahlkarten und können an ihrem Standort sowie in ihrem Wohnort abstimmen." Nicht vergessen dürfte man auch die Stimmen Verstorbener, die nicht aus dem Wahlregister gelöscht worden seien. "Das ist ein probates Mittel, um sich Mehrheiten zu sichern", meint Abdulhai, "zumal keine Bevölkerungsstatistiken existieren." Er ist sich sicher, so versuche man die nationalen Wahlen zu manipulieren. "Auch hier in Kurdistan wird die herrschende DPK zu diesen illegalen Mitteln greifen", glaubt der Vertreter von al-Goran. Die Regierung von Präsident Barsani sei bekannt für Korruption und Vetternwirtschaft. "Er besetzt neue Ämter mit Familienangehörigen oder Klanmitgliedern." Kurdistan sei fest im Griff der DPK und der anderen Regierungspartei PUK. Beide hätten ihre eigenen Peschmerga-Einheiten. Die bewaffneten Sicherheitskräfte könnten machen, was sie wollten.
Eine Geschmacksprobe der Macht der herrschenden KDP gibt es an der Grenze zu Rojava, dem kurdischen Gebiet auf syrischem Boden. Die Grenze wurde am 12. April geschlossen, sollte aber für Journalisten geöffnet sein. Ein Beamter am letzten Checkpoint nimmt eine bedrohliche Haltung ein, weil wir in den syrischen Teil Kurdistans wollen. Offen gibt er zu, er vertrete die Interessen der DPK und deutet auf den Fernseher. Dort läuft eine Wahlveranstaltung der Partei, die entlang der Grenze einen 17 Kilometer langen und drei Meter tiefen Graben ausheben ließ. Angeblich soll damit der Schmuggel zwischen beiden kurdischen Teilen unterbunden werden. In Wahrheit will man die im syrischen Teil populäre Partei der Demokratischen Union (YPD) unter Druck setzen.
Die YPD gilt als verlängerter Arm der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die mit ihrer sozialistischen Ideologie nicht zur kurdischen freien Marktwirtschaft im Irak passt. "Ob al-Qaida oder PKK", stellt der DPK-Abgeordnete Taha in Erbil fest, "sie sind Eier ein und desselben Huhns, nämlich des Terrorismus."
Die Schließung der Grenze zu Rojava kommt einer Blockade gleich. Denn die kurdische Bevölkerung ist dort im Westen und Süden von radikalen Islamisten eingekreist. Im Norden liegt die türkische Grenze, die ebenfalls geschlossen ist. "Ich kann meine Kinder im Irak nicht mehr sehen", sagt einer der Demonstranten, die auf der syrischen Seite protestieren. "Nun erreichen uns keine Hilfsgüter mehr und Flüchtlinge können sich nicht mehr in Sicherheit bringen", erklärt der Familienvater weiter. Obwohl es um unsere Existenz im Krieg gegen Extremisten gehe. "Es ist eine Schande, das seinen kurdischen Brüdern anzutun", ruft eine andere Demonstrantin.
Trotz der Beschwerden lässt man sich die Laune nicht verbieten. Zwischen den Zelten eines Protestcamps tanzt man zu kurdischer Musik. Keine hundert Meter entfernt stehen die irakischen Peschmergas auf der anderen Seite des neu ausgehobenen Grabens. Mit dem Fernglas beobachten sie unaufhörlich ihre "kurdischen Brüder" auf syrischem Boden. Zum Mitwippen lassen sich die Peschmergas nicht hinreißen. Sie bleiben ungerührt, als hätten sie mit all dem nichts zu tun.

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