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Das grausame Geschäft mit Hoffnung und Elend

Im libyschen Küstenort Zuwara legen Flüchtlinge ihr Leben in die Hände von Schlepperbanden. Unter schlimmen Bedingungen warten sie auf die Reise ins Ungewisse. Die Schlepper verdienen an ihrem Elend. Von Alfred Hackensberger, Zuwara
In Zuwara liegen alte hölzerne Fischerboote auf dem Trockenen. Mit solchen Schiffen werden Flüchtlinge von Libyen nach Italien geschmuggelt
Foto: Victor Breiner In Zuwara liegen alte hölzerne Fischerboote auf dem Trockenen. Mit solchen Schiffen werden Flüchtlinge von Libyen nach Italien geschmuggelt
 
Der warme Abendwind weht durch die Palmen am Strand und bläst den Sand in die Vorgärten. "Heute fährt kein Boot nach Lampedusa, das Wetter ist zu schlecht", stellt Abu Salem auf der Terrasse seiner großzügigen, zweistöckigen Villa fest. Er zeigt aufs Meer hinaus, zu den hohen Wellen, deren weiße Gischt auch in der Dunkelheit noch zu erkennen ist. Abu Salem weiß, wovon er spricht. Er ist ein Menschenschmuggler, der Flüchtlinge übers Mittelmeer illegal nach Europa bringt.
Sein Standort ist Zuwara, eine Hafenstadt an der libyschen Küste, von der es nur 154 Seemeilen, umgerechnet 291 Kilometer, nach Italien sind. Das ist die kürzeste Fahrtstrecke von Libyen nach Europa. "Das wissen natürlich die Flüchtlinge", erklärt Abu Salem. "Sie kommen zu uns aus ganz Afrika, auch aus Syrien oder sogar aus Bangladesch und Pakistan. Und sie werden immer mehr, denn hier in Zuwara fahren wir das ganze Jahr ab, ohne Pause."
Der 38-Jährige ist seit 2005 "im Geschäft" und will rund 45 Boote übers Meer nach Italien geschickt haben. 2013 seien es bisher fünf gewesen. "In der Zeit Muammar al-Gaddafis war alles viel schwieriger", erzählt Abu Salem. Man habe extrem vorsichtig sein und viel Geld für die Bestechung von Polizei, Militär und Geheimdienst ausgeben müssen. Aber heute nach der Revolution sei alles einfach geworden. "Es gibt kein Regime mehr, das alle überwacht, und die neuen Sicherheitsbehörden sind klein und chancenlos", fügt er lächelnd hinzu.
Vor der Küste Zuwaras hatte ein Teil der Migranten das Unglücksboot bestiegen, das am 3. Oktober vor Lampedusa sank. Dabei starben 359 Menschen. Abu Salem weiß natürlich davon und auch von anderen Schiffsunglücken. Er behauptet, bei ihm hätte es noch nie einen Unfall gegeben. "Andere stecken 200 Menschen auf ein 18 Meter langes Boot. Bei mir sind es nur 180. Ich überlade meine Boote nicht."
Bequem wäre das trotzdem nicht. Aber er sei ja auch kein Flugkapitän, der eine angenehme Reise verspreche, fügt er schmunzelnd hinzu. "Fehler macht nur die neue, junge Generation der Schmuggler", sagt der 38-Jährige. "Sie haben keine Erfahrung und denken nur ans Geld."

"Der Kapitän weiß nicht, was er tut"

Das behauptet auch Faraj, ein "Geschäftskollege", der seit 2003 weit über 70 Boote nach Italien geschickt hat. 2013 sollen es allein zwölf gewesen sein. Das letzte sei im September ausgelaufen. "Der Kapitän weiß nicht, was er tut, und der Mechaniker kann die Maschine nicht reparieren", sagt er. So kämen die Schiffsunglücke zustande.
Zudem sind Kapitän und Maschinist, die meist aus Ägypten oder Tunesien stammen, keine Profis. Sie werden nur zwei oder drei Tage im Umgang mit GPS, Satellitentelefon und Motor trainiert. "Sie bekommen eine Decke über den Kopf und lernen so, sich mit dem GPS-Gerät zurechtzufinden", sagt Faraj.
Bis zur Abfahrt würden Kapitän und Maschinist getrennt von der "Fracht" untergebracht. Mit Fracht sind die Migranten gemeint. Sie würden in einer Lagerhalle oder in alten, verlassenen Häusern untergebracht, erklärt Faraj. Je nach Größe des Bootes sind es zwischen 70 und 500 Menschen. Ob Männer, Frauen oder Kinder, niemand dürfe das "Frachtlager" verlassen.
Jede Kommunikation mit der Außenwelt sei verboten. Mobiltelefone würden ihnen abgenommen. "Das kann eine Woche oder zwei Monate dauern", erklärt Faraj. Das hinge von Logistikproblemen und dem Wetter ab. Zum Zeitvertreib gebe es nur einen Fernseher. "Das ist wie im Gefängnis", gesteht der 45-Jährige unumwunden ein. Es gebe nur eine einzige Toilette, die nicht funktioniere. Der Gestank sei unerträglich.
Streit sei an der Tagesordnung. "Ich konnte die Tür oft nur in Begleitung eines Dobermann-Kampfhunds aufmachen", erinnert sich Faraj. "Aber es geht nicht anders. Schließlich arbeiten wir in der Illegalität."

Reich durch Menschenschmuggel

Die Migranten waren oft schon ein, zwei Monate unterwegs, um nach Zuwara zu kommen. Der überwiegende Teil muss in Libyen erst das Geld für die Überfahrt erarbeiten. Das kann bis zu zwei Jahre dauern. Im Zentrum des Ortes stehen Migranten an der Straße und warten auf Arbeitsangebote. Ibrahim aus dem Niger ist einer von ihnen.
"An einem guten Tag verdiene ich 30 Euro auf dem Bau", erklärt er. "Ich muss Geld nach Hause schicken, hier leben und etwas für die Fahrt nach Italien zurücklegen." Sein ältester Bruder hat in seinem Heimatdorf Taua, in der Nähe von Agades, für die Reise nach Libyen einen Kredit aufgenommen. "Wenn ich nicht nach Italien komme, ist es ein Desaster", sagt er. Der Sohn eines Bauern wurde, wie alle anderen Migranten, von einem Landsmann in Libyen von Ort zu Ort dirigiert.
Faraj hat heute mit den Migranten persönlich nichts mehr zu tun. Er ist jetzt wie ein Großhändler, der "Fracht-Kontingente" von seinen Kontakten in Ägypten, Marokko, im Sudan oder Tschad kauft und sie von lokalen Repräsentanten "verarbeiten" lässt. Das Geld dafür wird über Hawala, ein informelles, privates Überweisungssystem, bezahlt, das wie Western Union funktioniert.
Faraj und Abu Salem sind mit dem Migrantenschmuggel reich geworden. Sie haben große Häuser gekauft, neue Autos, und ihr Bankkonto ist gut gefüllt. "Ich fahre nur Mercedes", sagt Faraj und zeigt den Daimler-Benz-Stern auf seinem Autoschlüssel.

Teuer erkaufte Hoffnung auf eine bessere Zukunft

Zwischen 700 Euro und 900 Euro kostet die Überfahrt, egal ob Kind oder Erwachsener. Nur Babys sind umsonst, wenn sie von den Müttern im Arm gehalten werden können. Die Migranten müssen zahlen, bevor sie im "Frachtlager" eingesperrt werden. "Natürlich mag ich das Geld, aber wenn mich Migranten aus Italien anrufen und sich bedanken, wird mir warm ums Herz."
Er sei auch der einzige Schmuggler, der Rettungsschwimmwesten an seine "Fracht" ausgebe. Faraj behauptet, er habe auch Kontakte zum Roten Kreuz in Lampedusa, die dabei behilflich seien, einige seiner Bootsflüchtlinge aus dem Internierungslager zu entlassen. Er schmunzelt wieder und möchte darüber nichts weiter sagen.
Faraj begleitet jedes seiner Boote bis zur Grenze der internationalen Gewässer, um sicherzugehen, dass in die richtige Richtung gefahren wird. Von da an übernehme man im Operationsraum das Schiff. Über das Satellitentelefon gibt der Kapitän ihnen alle zwei bis drei Stunden seine Koordinaten durch. Am Computer wird seine Position auf Seekarten verglichen und notfalls korrigiert.
Sobald die italienische Küste in Sicht ist, werden GPS, Satellitentelefon und die SIM-Karte getrennt ins Wasser geworfen. Im Operationsraum sitzt neben dem Koordinator und Faraj auch der Bootsbesitzer. Er bekommt die umgerechnet 45.000 Euro für sein Schiff nur dann, wenn die Überfahrt glattgeht und der Motor keinen Schaden nimmt. Ansonsten geht er leer aus.

Polizei ist "hoffnungslos überfordert"

Normalerweise dauert die Überquerung des Mittelmeers auf einem Fischerboot nicht länger als 18 Stunden. Faraj lässt Benzin für 24 Stunden, Wasser und Verpflegung für sechs Extratage aufs Schiff laden.Für die Menschen auf dem Boot, das im Oktober vor Lampedusa kenterte, wäre aber auch Farajs vermeintliche Großzügigkeit nicht ausreichend gewesen. Die Migranten waren insgesamt 13 Tage auf ihrem Schiff unterwegs. Die Maschine war ausgefallen.
An der Küste bei Zuwara versucht die Polizei zu verhindern, dass die Boote mit den Flüchtlingen überhaupt ablegen. "Wir sind hoffnungslos überfordert", gibt Abubakar al-Idrissi von der Polizei in Zuwara offen zu. "Wir haben nicht genug Personal, zu wenige Wagen und Schiffe, um unseren Küstenstreifen von 110 Kilometern zu überwachen."
Kurz nach Mitternacht geht es im Geländewagen auf Patrouille entlang der Küste – vorbei an bekannten Ablegeplätzen. "Wegen des schlechten Wetters werden wir heute niemand finden", sagt al-Idrissi. Er fährt zum Machuk-Strand, an dem sie vor drei Monaten eine tote schwangere Frau fanden.
"Mir haben Migranten berichtet, dass Menschen oft ins Meer geworfen werden, vor allem aus einem Zodiac-Boot, wenn zu wenig Platz ist", sagt er. In diese Schlauchboote mit Außenbordmotor würden oft 70 Menschen gequetscht, obwohl nur für ein Drittel Platz wäre.

T-Shirts mit EU-Fahnen lösen keine Probleme

Dieses Jahr hat die Polizei von Zuwara rund 45 Zodiacs und 25 Fischerboote konfisziert. Von den etwa 7000 Flüchtlingen, die damit nach Italien reisen wollten, konnten sie 2000 verhaften. Hilfe von der Europäischen Union habe seine Polizeistation nicht bekommen, sagt al-Idrissi. Er meint damit die Eubam, deren Vertreter seit April in Tripolis sind.
"Wir können nicht alles gleichzeitig machen", erläutert Antti Hartikainen, der Leiter der EU-Mission für integriertes Grenzmanagement, im "Korinthia-Hotel" in der libyschen Hauptstadt. "Wir haben bereits in verschiedenen Städten zweitägige Trainingskurse für Grenzpersonal gegeben." Die Eubam sei ein langfristiges, auf mehrere Jahre ausgelegtes Programm. Schließlich hat Libyen eine 1880 Kilometer lange Küste und 4500 Kilometer Landesgrenzen.
"Diese Seminare der EU sind sinnlos", meint Oberst Abdellatif Abulamuscha, der Chef der Behörde für illegale Immigration in Tripolis, die für die Registrierung und Deportation von Migranten zuständig ist. Es fehle der Praxisbezug. "Um dem Problem wirklich zu begegnen, müsste man das Hauptquartier im Süden Libyens installieren", erklärt er.
Der Oberst legt eine Landkarte auf den Schreibstich und deutet auf die beiden Wüstenstädte Sebha und al-Kufra. Das sind Transitpunkte für alle Migranten, die die Sahara durchqueren. Diesen Weg nimmt der überwiegende Teil.
"Wir haben über das ganze Land verteilt insgesamt 19 Internierungslager, aus denen Migranten zu uns gebracht werden", erklärt Abulamuscha weiter. Alle Lager habe die libysche Regierung auf eigene Kosten eingerichtet. "Von der EU haben wir außer 250 Schachteln mit Croissants mit Schokoladenfüllung nichts erhalten", behauptet der Oberst. Dazu habe es einige T-Shirts mit EU-Flagge darauf gegeben.

Der Versuch, die Katastrophe zu managen

Vor einem Jahr sei eine EU-Kommission hier gewesen, habe eine Liste von notwendigen Dingen aufgestellt und Fotos gemacht. Aber bisher sei nichts passiert. Man brauchte Geländewagen, Hubschrauber, Boote und richtiges Training.
Etwa 25 Fahrtminuten von Tripolis entfernt, unweit des internationalen Flughafens, liegt auf dem Land das Abschiebelager der Behörde für illegale Immigration. In der ehemaligen Polizeikaserne in Tweischa sind rund 400 Flüchtlinge nach Nationalitäten in verschiedenen Hallen untergebracht. "Sie bleiben oft ein Jahr, bis sie mit dem Bus an die Grenze in der Sahara abgeschoben werden", sagt Ahmed Salama, der Kommandant des Lagers, und öffnet das schwere Tor einer Halle.
"Hier haben wir 120 Äthiopier und Somalier." Alle Augen der Internierten richten sich sofort auf den Lagerchef. "Wir wollen nach Hause", sagen mehrere. In der nächsten Halle beschwert sich Ibrahim aus Gambia über das schlechte Essen. "Jeden Tag zum Frühstück Brot und Saft, mittags Makkaroni und abends Soße mit Brot." Mit über 50 Menschen in einem Raum könne er nachts außerdem nicht schlafen.
"Wir haben so viele unterschiedliche Nationalitäten, dass ich sie gar nicht alle aufzählen kann", sagt der Kommandant. "Von Pakistanern über Ägypter, Eriträer bis hin zu Tschad und Nigeria. Er könne nichts dafür, dass diese Leute so lange hier blieben, rechtfertigt sich Salama.
Die Bürokratie in Tripolis sei eben langsam. Aber die Migranten hätten es noch gut. "Normalerweise sind hier 1200 untergebracht, und Fußball spielen können sie auch." Er deutet auf einen Bolzplatz mit zwei kleinen Toren.

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