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Die Wut der Tunesier und die gestohlene Revolution

Tunesien kommt nicht zur Ruhe. Im ländlichen Sidi Bousid, der Wiege der "Jasminrevolution", gibt es gewalttätige Proteste. Denn hier hat sich für die Menschen nicht viel verbessert. Von

Ein Mann betet in Tunesien am Grab von Mohamed Bouazizi in Sidi Bousid. Die Stadt gilt nach der Selbstverbrennung des Obstverkäufers als Wiege der „Jasminrevolution“ und des gesamten „arabischen Frühlings“
Foto: AFP Ein Mann betet in Tunesien am Grab von Mohamed Bouazizi in Sidi Bousid. Die Stadt gilt nach der Selbstverbrennung des Obstverkäufers als Wiege der "Jasminrevolution" und des gesamten "arabischen Frühlings"

Sie blieben bis in die späte Nacht. Über 10.000 Menschen gingen im Zentrum von Tunis auf die Straße, um gegen die islamistische Regierungspartei Ennahda zu protestieren. "Genug mit der Regierung, genug mit Ghannouchi", skandierte die Menge und meinte den Führer der Partei, Raschid Ghannouchi. Tunesien kommt nicht mehr zur Ruhe, seit der Oppositionspolitiker Mohammed Brahmi am vergangenen Donnerstag mit 14 Schüssen vor seinem Haus niedergestreckt wurde. Es war bereits das zweite politische Attentat in diesem Jahr und löste eine Welle des Protestes aus. Zur Beerdigung Brahmis waren Hunderttausende gekommen. Sein Tod ließ die Spannungen zwischen dem säkularen Teil der Gesellschaft und den Islamisten neu aufflammen. Mit den nicht endenden Protesten verschärft sich die Lage in Tunesien von Tag zu Tag.
Die Opposition will den "Sturz der Mörder". Sie macht die Ennahda für das Attentat an Brahmi verantwortlich. Der 58-jährige Parlamentsabgeordnete der Partei der Volksfront war ein entschiedener Kritiker der Islamisten. Nicht minder wie Schokri Belaid, der im Februar mit der gleichen Tatwaffe und ähnlichen Umständen ermordet worden war.
Die Ennahda wies alle Verdächtigungen entschieden zurück. Parteiführer Raschid Ghannouchi sprach von "einem Versuch, den demokratischen Prozess in Tunesien aufzuhalten und das einzig positive Modell in der Region zu zerstören". Als Attentäter in beiden Mordfällen benannte Ennahda-Innenminister Lotfi Ben Jeddu die radikal-islamische Gruppe Ansar al-Scharia, legte aber keine konkreten Beweise vor. Die al-Qaida-nahe Gruppe dementierte jedoch auf ihrer Web-Seite und lehnte jede Verantwortung an den Morden ab.

Hauptverdächtiger offenbar aus Frankreich

Die tunesischen Behörden haben jedoch einen Hauptverdächtigen für beide Morde im Visier. Er stammt offenbar aus Frankreich und saß dort zwischenzeitlich wegen Gründung einer Dschihad-Gruppierung im Gefängnis. Bei Bubaker al-Hakim handle es sich "sehr wahrscheinlich" um einen in Paris geborenen Islamisten gleichen Namens, verlautete am Montag aus informierten Kreisen in Paris. Der 30-Jährige war demnach 2008 wegen Gründung einer Gruppe, die Männer für einen Kampf gegen die US-Besatzer im Irak rekrutierte, zu sieben Jahren Haft verurteilt worden.
Bereits 2011 sei al-Hakim aus dem Gefängnis entlassen worden, verlautete aus den informierten Kreisen. Seitdem wurden in Frankreich keine neuen Ermittlungen gegen ihn aufgenommen. Al-Hakim hatte auch selbst im Irak gekämpft. In mehreren Reportagen, die französische Fernseh-Teams im Irak drehten, rief er seine "Brüder" in Paris dazu auf, seinem Beispiel zu folgen.

Arbeitslosenquote teilweise bei 80 Prozent

In Tunis waren die Proteste, außer dem Tränengaseinsatz der Polizei, durchweg friedlich geblieben. Anhänger der Ennahda und der Opposition trafen zwar aufeinander, aber die Sicherheitskräfte hielten sie streng getrennt. Zu gewalttätigen Konfrontationen mit der Polizei war es jedoch in Sidi Bousid gekommen. Die Stadt gilt nach der Selbstverbrennung eines Obstverkäufers als Wiege der "Jasminrevolution" und des gesamten "arabischen Frühlings". Sidi Bousid ist jedoch auch die Geburtsstadt des ermordeten Politikers Brahmi. Autoreifen wurden angezündet und Polizisten mit Steinen beworfen.
Die Stadt auf dem Lande im Süden Tunesiens ist bezeichnend für die anhaltende wirtschaftliche Misere. Es ist eine verarmte Region, in der sich nach der Revolution und mit einer islamistischen Regierung wenig veränderte. "Nichts hat sich hier getan", sagte ein Bauer, der damals wie heute nicht weiß, wie er überleben soll. Offiziell liegt in Tunesien die Arbeitslosenquote bei 18 Prozent. "In den ärmsten Regionen kann sie bis auf 80 Prozent gehen", versicherte Mohammed Mselmi, der Generalsekretär der größten Gewerkschaft, UGTT. "Auf dem Land hat alles angefangen, und nun verbreitet sich hier das Gefühl, die Revolution wurde ihnen gestohlen."
In Tunis trat die Parteiführung der Ennahda am Montag zu einer Krisensitzung zusammen und setzte Neuwahlen an. Als Wahltermin wurde der 17. Dezember genannt, zugleich schloss Regierungschef Ali Larayedh am Montag einen vorzeitigen Rücktritt seiner Regierung aus.
Zuvor waren Bildungsminister Salem Labiadh und 70 Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung bereits von ihrem Amt zurückgetreten. Sollten sich noch drei weitere Abgeordnete zu einem Rücktritt entschließen, wäre das Gremium handlungsunfähig. Es könnte keine Zweidrittelmehrheit zustande kommen, die nötig ist, um über eine neue Verfassung zu bestimmen. Tunesien wartet seit über einem Jahr vergeblich auf ein neues Grundgesetz. Erst danach ist der Weg frei für Parlaments- und Präsidentenwahlen.

Militär will "apolitische Rolle" spielen

Am Montag diskutierte auch die Gewerkschaft UGTT, wie man sich in der Krise weiter verhalten werde. "Wir beraten über die Zukunft des Landes", sagte Generalsekretär Sami Tahri selbstbewusst. Der Gewerkschaftsverband weiß um seine Macht, hat er doch beim Sturz des Diktators Ben Ali eine entscheidende Rolle gespielt. Ennahda steht nicht nur unter dem Druck der Straße, sondern auch unter jenem der tunesischen säkular orientierten Zivilgesellschaft. Wenn sich Gewerkschaften, Politiker und Demonstranten solidarisieren und ein gemeinsames Konzept haben, hat es selbst eine demokratisch gewählte Regierung schwer, sich durchzusetzen.
Das Militär Tunesiens hat letzte Woche am 57. Jahrestag seines Bestehens betont, man werde "weiter eine völlig apolitische Rolle spielen". Als dem Autokraten Ben Ali während der Revolution 2011 das Wasser bis zum Hals stand, wollte er die Armee instrumentalisieren. Sie sollte auf Demonstranten schießen, lehnte dies aber ab. Stattdessen beschränkte sie sich darauf, Regierungsgebäude zu bewachen, sowie Recht und Ordnung auf den Straßen zu gewährleisten.

"Wir opfern unser Blut für Mursi"

In Ägypten ist die Rolle des Militärs eine völlig andere. In der 38-jährigen Herrschaft von Präsident Husni Mubarak war es bestimmende Kraft des Staates. Während der Revolution übernahm ein Militärrat Regierungsfunktionen. Als es Massenproteste gegen den ersten demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi gab, entschied sich die Armee, ihn kurzerhand am 3. Juli abzusetzen und eine Übergangsregierung festzulegen.
Die Anhänger Mursis wollen den Staatsstreich nicht hinnehmen. Alleine am vergangenen Wochenende wurden über 70 Unterstützer Mursis bei Demonstrationen getötet. Aber sie lassen sich nicht einschüchtern. Am Montag starteten sie einen Marsch auf das Hauptquartier des militärischen Geheimdienstes. Auf Plakaten stand geschrieben: "Wir opfern unser Blut und unsere Seelen für Mursi". Am Dienstag soll eine "Eine-Million-Demonstration" in Kairo folgen.
Wie ernst die Lage in Ägypten ist, unterstreicht auch der erneute Besuch der EU-Außenbeauftragten in Kairo. Am Montag sprach Catherine Ashton mit Vertretern der Muslimbruderschaft sowie mit Abdel Fattah al-Sisi, dem Armeegeneral, der den Putsch gegen den Präsidenten anführte. Die EU-Beauftragte hatte mehrfach die Freilassung Mursis gefordert. Ob Ashton allerdings viel Einfluss auf den General ausüben konnte, steht zu bezweifeln. Die Militärs denken über eine Erklärung des Notstands nach.

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