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Die Beweise für den Einsatz von Giftgas sind dünn

Frankreich und die USA sehen es als bewiesen an, dass das Assad-Regime im syrischen Bürgerkrieg chemische Kampfstoffe einsetzt. Die Beweise aber sind dünn. Eine Spurensuche. Von
Kämpfer der Rebellen bringen sich in der syrischen Stadt Aleppo vor dem Scharfschützenfeuer der Assad-Truppen in Sicherheit
Foto: Victor Breiner Kämpfer der Rebellen bringen sich in der syrischen Stadt Aleppo vor dem Scharfschützenfeuer der Assad-Truppen in Sicherheit
 
Sehen Sie die Artilleriegeschütze?" fragt Rebellenkommandant Abu Mahmud und deutet oben auf den Hügelkamm. "Sie haben die ganze Stadt im Visier." Minuten später schlägt eine Granate mit Ohren betäubendem Knall in etwa 400 Meter Entfernung ein. "Heute ist es ruhig", versichert der 27-Jährige. "Sonst geht das ununterbrochen so." Abu Mahmud führt 200 Kämpfer an, die in al-Safireh einen Militärkomplex der syrischen Armee belagern.
Es ist keine gewöhnliche Einrichtung, die auf einem 20 Kilometer langen und fünf Kilometer breitem Gelände auf den umliegenden Hügel der Stadt untergebracht ist. Vor dem Bürgerkrieg wurden hier Jahrzehnte lang chemische Kampfstoffe hergestellt. Al-Safireh, eine Kleinstadt mit 130.000 Einwohnern im Südwesten von Aleppo, war einer der bedeutendsten von insgesamt fünf Standorten in Syrien, an denen Massenvernichtungswaffen produziert wurden. Eine Industrie, die nach Schätzungen westlicher Geheimdienste eine Produktionskapazität von einigen hundert Tonnen pro Jahr hatte.
"Es war die Abteilung 500, zu der nur Leute mit Spezialausweis Zutritt hatten", erinnert sich Mohammed, der als Feuerwehrmann im Militärkomplex von al-Safireh arbeitete und jetzt auf der Seite der Rebellen kämpft. "Nur ein kleiner Teil des Chemie-Gebäudes ragt aus der Erde, der Rest ist unterirdisch. Von einem Turm aus wurden alle Bewegungen überwacht. Das gesamte Wachpersonal war bewaffnet und hatte Schießbefehl."
Höchste Sicherheitsstufe für einen Ort, an dem die tödlichsten aller chemischen Kampfstoffe hergestellt und gelagert wurden. Darunter befand sich auch das Nervengas Sarin. Es ist 500 Mal toxischer als Zyanid und soll von syrischen Regierungstruppen im Bürgerkrieg mehrfach eingesetzt worden sein.

Der 27-jährige Abu Mahmud führt 200 Kämpfer der Freien Syrischen Armee
Foto: Victor Breiner Der 27-jährige Abu Mahmud führt 200 Kämpfer der Freien Syrischen Armee

Ein Kämpfer der radikalislamischen Gruppe al-Nusrah mit einer Gas-Granate am Gürtel
Foto: Jeff Ruig Ein Kämpfer der radikalislamischen Gruppe al-Nusrah mit einer Gas-Granate am Gürtel

"Schaum kam aus Mund und Nase"

Am 23. Dezember 2012 meldeten die Rebellen aus Homs zum ersten Mal einen chemischen Angriff. Syrische Ärzte diagnostizierten damals Atemnot, Nervenleiden sowie Magen- und Darmbeschwerden. Vertreter der US-Regierung führten das auf den "unsachgemäßen Gebrauch von Gasgranaten" zurück. Am 19. März diesen Jahres starben 32 Menschen in Khan al-Assal, einem Ort westlich von Aleppo.
Da unter den Toten auch Regimesoldaten waren, behauptete der syrische Präsident Baschar al-Assad, "islamistische Terroristen" hätten dort chemische Waffen eingesetzt. Syrischen Staatsmedien zufolge explodierte eine von Islamisten selbst gebaute Rakete, in deren Sprengsatz sich Chlorine (CL17) befunden hätten. Am 13. April wurden in Scheich Maksud, einem Stadtteil von Aleppo, mehrere Menschen "vergiftet".
Aus einer Granate seien Rauch und Gase ausgeströmt, hieß es. "Ärzte und Bewohner starben, als sie den Opfern zu Hilfe kommen wollten", erinnert sich Doktor Safuan. "Schaum kam aus dem Mund und aus der Nase."

Hubschrauber werfen Plastikgranaten ab

Mehr als einen Monat nach dem Vorfall übergibt der 22-jährige Mediziner Blutproben der Opfer an ein französisches Fernseh-Team. "Sie packten unsere gekühlten Proben in eine normale Plastiktüte", erzählt der Arzt. Zur Überraschung der Journalisten interessiert sich zu Hause niemand für ihr Mitbringsel aus Syrien.
Das französische Außenministerium ist bereits im Besitz von Proben. Ein Team der französischen Tageszeitung "Le Monde" schmuggelte Urin-, Blut- und Kleiderproben aus Damaskus ein, die von einer Chemieattacke im Stadtteil Jobar stammten.
Ein zweites Paket kam aus Sarakeb, einer Stadt in der Provinz Idlib. Das Außenministerium in Paris bestätigte, man habe sie von "einem syrischen Arzt" erhalten, machte aber keine näheren Angaben, wie sie nach Frankreich gelangten. Die Vermutung liegt nahe, dass die Proben auf "Geheimdienstwegen" transportiert worden sind. In Sarakeb hatte ein Hubschrauber der syrischen Luftwaffe zwei Behälter abgeworfen, in denen sich – wie schon in Scheich Maksud und in Homs – weiße Plastikgranaten befanden.
Eine Frau starb bei dem Angriff. 13 weitere Personen wurden verletzt und zur Behandlung in ein Krankenhaus der türkischen Grenzstadt Reyhanli eingeliefert. Noch am gleichen Tag nahm man dort Blutproben der Opfer. Die Ärzte konnten jedoch weder Spuren von Sarin noch sonst etwas Außergewöhnliches entdecken.

Aus "geringer" Überzeugung wird "hohe"

Am 6. Juni verkündete der französische Außenminister Laurent Fabius: "Nach Labortests besteht Gewissheit, Syrien hat Sarin-Gas mehrfach lokal begrenzt eingesetzt." Mit der Bekanntmachung der positiven Sarin-Tests, die Frankreich an die Vereinten Nationen sowie an die US-Behörden weiterleitete, kam das Weiße Haus unter Druck.
Die US-Regierung hatte bisher gezögert, den Einsatz von chemischen Kampfstoffen zu bestätigen. Nun sprach sie plötzlich von eigenen Untersuchungen und Beweisen. Innerhalb kurzer Zeit wurde aus einer "geringen Überzeugung" eine "hohe", dass das Regime in Damaskus chemische Waffen benutzt habe. Mit dem Einsatz von Sarin sei die "rote Linie" überschritten und Präsident Barack Obama kündigte an, "die Militärhilfe" an die Rebellen zu intensivieren und zu beschleunigen.
Was sind nun die Testergebnisse, die der französischen Regierung vorliegen und die Washington dazu bewogen haben, ihre Haltung im Syrien-Konflikt zu ändern? Paris hat bisher darauf verzichtet, die Resultate zu veröffentlichen und so Verschwörungstheorien gar nicht erst aufkommen zu lassen. In Erinnerung sind noch die "Massenvernichtungswaffen" Saddam Husseins im Irak, mit deren Existenz die US-Invasion 2003 gerechtfertigt wurde, die aber nie gefunden werden konnten.

Proben zeigen nur niedrige Sarinwerte

Die französischen Testergebnisse wurden lediglich bei einem informellen Treffen preisgegeben. "Es sind zwischen 270 ng/ml und 1040 ng/ml", sagt der Verantwortliche, der seinen Namen nicht genannt haben will. Ausgewertet wurden drei Urinproben aus Jobar, die "Le Monde" lieferte, sowie zwei Blutproben und eine Urinprobe, die auf "Regierungswegen" aus Sarakeb kamen. Neben dem Metabolit Isopropylmethylphosphonsäure, wurde regeneriertes Sarin von 9,5 Nanogramm pro Milliliter (ng/ml) und 3,3 ng/ml gefunden.
"Die Werte sind nicht hoch", gibt man beim französischen Außenministerium zu. Aber sie bestätigten eindeutig den Einsatz von Sarin. "Auch wenn es geringe Mengen sind, das fällt unter psychologische Kriegsführung", meint der zuständige Beamte. Das klingt plausibel. Nach all den Grausamkeiten, die das Regime in Damaskus an der eigenen Bevölkerung begangen hat, würde dieser Versuch der Panikmache nicht überraschen.
Aber ist es tatsächlich so einfach? Sind Trupps der syrischen Armee landesweit in Schutzkleidung unterwegs und verschießen Munition mit minimaler Dosis Sarin? Etwas, das keinerlei militärischen Vorteil bringt und obendrein das Eingreifen westlicher Staaten provoziert?

"Mit diesen Resultaten weiß man nicht viel"

"Die Resultate sind sicherlich interessant", findet Stephen Johnson, Chemiewaffenexperte von CBRNeWorld, einer Firma, die auf Bedrohungsszenarien spezialisiert ist. "Vergleicht man aber die Ergebnisse mit denen der Opfer des Sarin-Angriffs in der Tokioer U-Bahn 1995, ist der Wert der französischen Urintests um mehr als 1000-mal geringer. Das ist schon sehr wenig."
Für den Experten sind zudem noch andere bedeutende Sachverhalte ungeklärt, die ein endgültiges Urteil erschweren: "Man braucht Vergleichsproben von Nicht-Betroffenen. Man muss wissen, wie die Proben genommen und transportiert wurden. Unter welchen Bedingungen liefen die Tests, wie oft hat man sie wiederholt und waren die Instrumente richtig geeicht."
Wie schwierig es sei, ein Urteil zu fällen, zeige das Golf-Kriegs-Syndrom, das lange Zeit falsch diagnostiziert worden sei, fügt Johnson an. Der Stressfaktor habe im Irak großen Anteil daran gehabt, dass die Blutproben teilweise den Eindruck erweckt hätten, die US-Soldaten seien chemischen Kampfstoffen ausgesetzt gewesen.
Auch für Paul, den C-Waffenexperten der britischen Sicherheitsfirma Allen Vanguard, steht fest: "Mit diesen Resultaten weiß man nicht viel." Um die wirkliche Todesursache zu erfahren, hätte man mehrere Proben von jedem Opfer nehmen müssen." Bei diesen niedrigen Werten könne es auch sein, dass jemand zu viel Insektenspray versprüht habe. Insektensprays basieren, wie Sarin, auf Pestiziden. "Unklar ist weiterhin auch", sagt Paul abschließend, "mit welchen Waffen das Sarin verschossen worden sein soll."

Granate spielt eine Schlüsselrolle

Die Skepsis der beiden Experten würde ein ordentliches Gericht wohl teilen und die französischen Testergebnisse nicht als Beweise anerkennen. Auch die Vereinten Nationen können sie nicht akzeptieren. "Die Validität jeder Information über vermeintliche Anwendung von chemischen Waffen hängt von einem überzeugenden Beweis einer Kontrollkette ab", sagte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon.
Er meint damit einen zweifelsfreien, sachgemäßen und überprüfbaren Transport der Proben, von ihrer Entnahme von unabhängigen Medizinern bis hin zum Testlabor. Bei den französischen Proben, wie auch bei allen anderen von Geheimdiensten oder Journalisten organisierten, ist das nicht der Fall. Die Proben wurden von Ärzten der Rebellen entnommen und übergeben. Außerdem muss die Einhaltung der Kühlkette nachgewiesen werden. Temperaturschwankungen können die Proben verfälschen.
Die beiden am besten dokumentierten Fälle von Angriffen mit Chemiewaffen sind jene von Sarakeb und Scheich Maksud, dem kurdischen Stadtteil von Aleppo. Dazu gibt es eine Reihe von Zeugenaussagen und Videos. Frankreich und die USA verweisen dezidiert auf diese Orte in ihrer Beweisführung für den Einsatz von Sarin. Normalerweise werden chemische Kampfstoffe mit Raketen oder Artilleriegeschützen verschossen.
In Sarakeb und Scheich Maksud ist in Rebellenvideos und Fotos jedoch eine weiße Plastikgranate als Geschoss zu sehen. Diese Granate soll auch mindestens noch in einem weiteren Fall benutzt worden sein. Sie spielt offenbar eine Schlüsselrolle bei chemischen Angriffen.
Fünf befragte Militärexperten aus vier verschiedenen Ländern sind sich einig, dass es sich um eine Rauch- oder Tränengasgranate handelt, wie sie bei Demonstrationen eingesetzt wird. Nur für den Transport von flüssigem Sarin ist diese, auf Pyrotechnik basierende Granate, ungeeignet. "Zum Hersteller und zum Herkunftsland lassen sich keine belastbaren Aussagen treffen", kommentierte die Bundeswehr, der ein Foto der Granate vorlag. Aufgrund fehlender Beschriftung kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um eine Munition handelt, die nicht in einer dazu autorisierten Fabrik hergestellt worden ist."

Angebliches Sarin könnte Beruhigungsmittel sein

Der "Welt" ist es nun gelungen, weitere Exemplare dieses Granatentyps ausfindig zu machen. Im Hauptquartier der radikal-islamistischen Gruppe Jabhat al-Nusra zeigte ein Kämpfer bereitwillig ein Exemplar. "Das ist eine Rauchgranate", sagt er und fügt hinzu, "wir haben sie vom Regime erbeutet." Wenige Tage danach berichtet ein Waffenkurier der FSA, der zwischen Aleppo und der türkischen Grenze pendelt, er habe die mysteriöse Granate während seines Militärdienstes gesehen.
"Eliteeinheiten der vierten Division trainierten damit in Daraa", versicherte der 22-jährige Anis. Von seinem Offizier wisse er, es seien Rauch-Granaten, die aus dem Iran stammten und ein Nervenberuhigungsmittel für Randalierer enthielten. "Dass es womöglich in Syrien nicht um Sarin, sondern um andere chemische Verbindungen geht, wäre eine plausible Erklärung", meint Johnson von CBRNeWorld. "Das würde erklären, warum es bei allen Vorfällen so wenig Todesfälle gab, was für Sarin untypisch ist."
Für die Rebellen in al-Safireh ist die Diskussion über chemische Waffen im Westen nicht nachvollziehbar. "Was macht das für einen Unterschied, ob sie uns mit normalen Waffen oder mit Chemie töten", fragt Yosef aufgebracht. Bei ihnen an der Front gibt es keine einzige Atemschutzmaske. "Das chemische Zeug wurde längst aus dem Militärkomplex in großen Lkw weggeschafft", erläutert Kommandant Abu Mahmud.
"Und wenn sie uns doch damit angreifen, vertrauen wir auf Gott, der uns beschützt", sagt Yosef und weist lachend auf die Wand. Dort hängt eine weiße Fahne mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis hängt: Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Prophet.

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